Selbstverständlich werden wir die Zahl 75 feiern. In mehr als sieben Jahrzehnten hat das Festival viele Erfolge und wahrscheinlich ebenso viele Krisen erlebt. Die Letzte war happig: die lock-down haben das Festival in seiner Existenz in Frage gestellt. Doch wage ich zu behaupten. Wir gehen gestärkt, ja überraschend gestärkt aus dieser Krise hervor. Warum? Weil Politik und Wirtschaft uns vertrauten und die schützende Hand über das Festival hielten (wir haben 2022 nicht weniger sondern sogar mehr Sponsoren als 2019!), weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die von zu Hause aus arbeiten mussten überdurchschnittlichen Einsatz zeigten, weil das Publikum und die Medien uns aufs vielfältigste zu verstehen gaben ja nicht aufzugeben und schliesslich unsere konsequente Fokussierung auf die rasanten digitalen Veränderungen, die auf uns zukommen.
75 Jahre lange schafften ein Sitz auf der Piazza Grande und eine Kinoleinwand Menschen zum Lächeln zu bringen, zu begeistern, zu bewegen, zum Nachdenken anzuregen. Jahr für Jahr gab es auf der Bühne intelligenten Glamour. Vor der grossen Leinwand sprachen hunderte von Persönlichkeiten zum Publikum. Die Meisten waren tiefgründig und geistreich andere wieder oberflächlich und nichtssagend. Unser Publikum auf der Piazza hat gnadenlos die Spreu vom Weizen getrennt.
Doch ein Festival, das in die Zukunft schaut, muss heute die Jungen und die ganz Jungen erobern. Man darf nicht von Digitalisierung schwafeln man muss sich als Festival seriös mit Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Metaverse auseinandersetzen und immer berücksichtigen, dass jede Generation ein spezieller Bezug zur Schrift, zur Sprache und zum Bild hat.
Die Aufgabe eines Festival kann nicht mehr nur darin bestehen zu unterhalten. Es muss Wege und Werte aufzeigen. Es sind die gleichen Werte, die unsere ersten 75 Jahre bestimmt haben, insbesondere Freiheit und Menschenwürde. Alles andere wäre ein Verrat am « esprit de Locarno» welches unser Locarno Film Festival auch in Zukunft charakterisieren muss, charakterisieren wird.
«Wenn ich ein Vermächtnis wählen müsste , das im Laufe der Zeit erhalten bleibt, würde ich mir wünschen , dass das Festivals trotz all seiner Entwicklungen immer ein Instrument der Wahrheit und des Nachdenkens bleibt ohne im Kampf für die Verteidigung der Freiheit und der Menschenwürde auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen.»
Locarno on /Locarno off Storia e storie del Film Festival , Lorenzo Buccella Ed. Casagrande
Marco Solari
Präsident des Locarno Film Festivals
