Nach vorherigen Retrospektiven, die den italienischen Produktionsfirmen Lux und Titanus gewidmet waren, kehrt das Locarno Film Festival nun mit Alberto Lattuada, der selbst für diese beiden Filmgesellschaften am Anfang seiner Karriere gearbeitet hat, zur Geschichte des italienischen Kinos zurück. Durch die Präsentation seiner kompletten Filmografie (mit vielen Werken, die auch von den Fachleuten noch wenig erforscht sind) werden wir versuchen, ein neues Licht auf einen Regisseur zu werfen, der vor allem ausserhalb Italiens noch wenig bekannt ist.
Lattuada, der oft für schwer einzuordnen oder exzentrisch gehalten wird, erweist sich jedoch als ein Filmschöpfer von ausserordentlicher Modernität, der Kultiviertheit und Popularität vereint. Lattuada, der sich als Intellektueller, Architekt, Kritiker und Fotograf in seinen frühen Jahren betätigt hat, blieb stets der Moderne treu, wie sie das lebhafte kulturelle Klima Mailands prägte, und erwies sich als kritischer Beobachter und Vordenker der grossen Transformationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als erfolgreicher Regisseur arbeitete er mit einigen der wichtigsten italienischen und internationalen Schauspielern der damaligen Zeit zusammen und entdeckte viele talentierte Darstellerinnen wie Jacqueline Sassard, Catherine Spaak, Nastassja Kinski und Clio Goldsmith.
Giona A. Nazzaro, künstlerischer Leiter des Filmfestivals Locarno: «Alberto Lattuada ist der Autor einer spannenden, abwechslungsreichen und vielschichtigen Filmografie. Als rastloser, neugieriger, grosszügiger und politischer Regisseur gelang es ihm, seine Einzigartigkeit und Individualität zu bewahren, indem er sich immer wieder selbst auf die Probe stellte und mit Filmgenres experimentierte, ohne jemals den Bezug zum Publikum zu verlieren. Das Gesamtwerk von Alberto Lattuada wiederzuentdecken bedeutet, das bestgehütete Geheimnis des italienischen Kinos ans Licht zu bringen. Ein paradoxes, faszinierendes, immer noch rätselhaftes Geheimnis».
«Nichts kann das Wesentliche einer Nation so offenbaren wie das Kino»: So definierte Alberto Lattuada 1945, was für ihn die siebte Kunst war, als er sich gemeinsam mit anderen Regisseuren daran machte, das Kino zu einem Ort der bürgerlichen, politischen und moralischen Teilhabe zu machen. Seine Leidenschaft für das Kino entfachte bereits während seiner Studienzeit durch seine Tätigkeiten als Filmliebhaber und Kritiker sowie durch die Organisation von Filmfestivals. Diese Erfahrungen führten dazu, dass er bald zu den Förderern jener Filmsammlung gehörte, aus der nach dem Krieg die Cineteca Italiana in Mailand werden sollte, und mit Regisseuren wie Soldati und Poggioli zusammenarbeitete. Nach seinem Regiedebüt 1943 mit Giacomo l'idealista (Giacomo the Idealist) zeigte Lattuada in Il bandito (The Bandit, 1946) zunächst ein ganz persönliches Bekenntnis zum Neorealismus, offen für die Einflüsse des Hollywood-Genrekinos, mit einer besonderen Vorliebe für Detektivgeschichten und den Melodramen, wie der nachfolgende Film Senza pietà (Without Pity, 1948) beweist. Gleichzeitig gelang es Lattuada auch in seinen vielen literarisch geprägten Filmen, wie Il mulino del Po (The Mill on the Po, 1949), sich dem Individuum und seinen sozialen Konnotationen in einer Art zuzuwenden, die über die neorealistische Sensibilität hinausgeht. In den 1950er Jahren, nachdem er gemeinsam mit Federico Fellini Luci del varietà (The Lights of Variety, 1950) gedreht hatte, wurde sein Blick nüchterner und galt nun verstärkt den wirtschaftlich bedrängten Menschen jener Jahre, die er in Il cappotto (The Overcoat, 1952), La spiaggia (The Beach, 1954) und Mafioso (1962) mit präziser Aufmerksamkeit darstellte. Gleichzeitig war er aber auch offen für Lebensfreude und Sinnlichkeit als Wege der Selbstfindung, die die Protagonisten von Anna (1951), Guendalina (1957) und Dolci inganni (Sweet Deceptions, 1960) kennzeichnet. Lattuadas Fähigkeit, sich mit ständig frischer Kreativität zu erneuern, führte ihn dazu, weitere Literaturadaptionen zu inszenieren, das Territorium der Kostümsatire, des Krimis und des Kriegsfilms zu durchpflügen, bis hin zu Drehbüchern und Filmen für das Fernsehen, wie Cristoforo Colombo (Christopher Columbus, 1985) und sein letztes Werk, Mano rubata (1989).
Roberto Turigliatto, Kurator der Retrospektive des Filmfestivals Locarno: «Sinnlichkeit, Schönheit, Zweideutigkeit, Beherrschung der Form, Perfektionismus und Experimentierfreude kennzeichnen das ausserordentlich vielfältige Werk eines freien, neugierigen und unkonventionellen Mannes, das es heute mehr denn je wiederzuentdecken gilt».