Press Releases  ·  20 | 01 | 2022

Locarno75: Die Retrospektive ist Douglas Sirk gewidmet

Der erste Teil der 75. Jubiläumsausgabe des Locarno Film Festival (3.-13. August 2022) ist die Retrospektive, die sich dem Regisseur Douglas Sirk widmet, der vor 35 Jahren gestorben ist. Wertvolle und bisher unveröffentlichte Dokumente aus den Archiven der Cinémathèque suisse liefern die Möglichkeit, historische Kontexte um den Regisseur zu rekonstruieren, der von der Neuen Welle und Regisseuren wie Rainer W. Fassbinder und Bernardo Bertolucci wiederentdeckt und geliebt wurde. Sirk, berühmt für seine in Hollywood für Universal gedrehten Melodramen, hatte sich nach seiner Rückkehr nach Europa in die Schweiz zurückgezogen.

Magnificent obsession – Collection Cinémathèque suisse. Tous droits réservés.

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Seit 1950 setzt sich Locarno Film Festival, eines der ältesten und bedeutendsten Filmfestivals in Europa und der Welt, unermüdlich für das historische Gedächtnis der Filmkunst ein. Tatsächlich haben die Retrospektiven von Locarno zur Entdeckung des jungen und aufstrebenden Kinos, zur Wiederentdeckung von Werken aus der Vergangenheit und zur Würdigung von Persönlichkeiten und Bewegungen beigetragen, die das Kino zu einer der höchsten Formen der populären Kunst gemacht haben. Deshalb freut sich das Festival, seine Reise zu den Schlüsselfiguren des klassischen Hollywoods fortzusetzen, indem es einen Filmemacher beleuchtet, der durch den radikalen Ausdruck von Leidenschaften ganze Generationen von Filmemachern inspiriert hat, von Jean-Luc Godard über Rainer W. Fassbinder und Daniel Schmid bis hin zu Pedro Almodóvar, John Waters, David Lynch, Todd Haynes und François Ozon.

Anlässlich seines 75-jährigen Jubiläums (3.-13. August 2022) wird das Festival Douglas Sirk ehren, der vor 35 Jahren verstorben ist. Der Regisseur wurde durch die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt: In seinem Werk verbindet sich die europäische Sensibilität, die im Kontext des deutschen Theaters zu Beginn des Jahrhunderts und des Weimarer Kinos reifte, mit dem amerikanischen Studiosystem mit seinen spezifischen Ausdrucksformen und Produktionslogiken. Für seine letzten Lebensjahre hatte Sirk die Schweiz als Rückzugsort ausgewählt – eine Schaffenszeit, die von einer unaufhörlichen und wenig bekannten kreativen und intellektuellen Tätigkeit gezeichnet war.

Giona A. Nazzaro, künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival: «Es ist an der Zeit, einen aussergewöhnlichen Filmemacher wie Douglas Sirk in allen Facetten seines Werks zu entdecken. Die Tatsache, dass dies in Locarno geschieht, in der Gegend, die der Maestro für seinen letzten Lebensabschnitt gewählt hat, unterstreicht die enge Verbindung zwischen Sirk und dem Tessin. Sirk gelang es, die Doppelmoral der Gesellschaft zu entlarven, indem er einige der schrillsten und politischsten Melodramen aller Zeiten schuf. Als hochkultivierter Intellektueller arbeitete er unter dem Radar in populären Genres und brachte Schauspieler wie Rock Hudson, Jane Wyman, Dorothy Malone, Robert Stack, Lana Turner, Jack Palance, Jeff Chandler hervor und bot sogar einem unbekannten James Dean seine erste berufliche Chance. Von der Nouvelle Vague wiederentdeckt, von Bertolucci geliebt und von Rainer W. Fassbinder, Daniel Schmid und Todd Haynes gefördert, kann Sirks Werk dank der Retrospektive in Locarno in seinem ganzen Reichtum gewürdigt werden.»

Die vollständige Präsentation der Werke Sirks wird von einer Auswahl zeitgenössischer Filme begleitet, die sich auf ihn beziehen, sowie von Dokumentarfilmen und Fernsehsendungen, in denen er eine Rolle gespielt hat. Zum ersten Mal wird das gesamte Werk Sirks anhand von unveröffentlichten Dokumenten, die von der Familie des Regisseurs über die Douglas Sirk Foundation zur Verfügung gestellt wurden und seit 2012 in der Cinémathèque suisse aufbewahrt werden, neu beleuchtet. Diese Dokumente werden es ermöglichen, die Perspektive auf Sirk zu erweitern, einschliesslich seines Schaffens als Intellektueller. 

Roberto Turigliatto, zusammen mit Bernard Eisenschitz Kurator der Retrospektive des Locarno Film Festival: «1978, einige Jahre vor seinem Tod, nahm Douglas Sirk am Locarno Film Festival teil und stellte einige seiner Filme vor. Das war der Moment der Entdeckung des Regisseurs nach den wenigen Auszeichnungen, die er bis dahin erhalten hatte. Vierundvierzig Jahre später schien es unabdingbar, mit einer umfassenden Retrospektive auf das Werk dieses grossen Meisters zurückzukommen, um es in seiner ganzen Komplexität zu erforschen, im Einklang mit einem starken und erneuerten internationalen Interesse.»

Anlässlich der Retrospektive wird auch ein Buch des Filmhistorikers Bernard Eisenschitz im Verlag Les éditions de l'Œil erscheinen, das dank der Fülle der untersuchten Dokumente einen neuen Zugang zum Werk Sirks bietet: «Douglas Sirk war ein ganzheitlicher Filmemacher, angefangen von seiner denkwürdigen Theaterarbeit in Bremen und Leipzig», so der Autor, «die mit dem von den Nazis organisierten Skandal bei seiner Inszenierung der Oper Silbersee von Kurt Weill endete. Im Dritten Reich drehte er kompromisslos fünf bemerkenswerte Filme und entdeckte die grosse Sängerin und Schauspielerin Zarah Leander, bevor er aus Nazi-Deutschland floh. In Hollywood ging er einen einsamen, individuellen und vielfältigen künstlerischen Weg, der ihn zu seinen berühmten grossen Melodramen führte.»

Die Retrospektive wird vom Locarno Film Festival in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und der Cinémathèque française sowie in Kooperation mit zahlreichen internationalen Archiven organisiert.

An dem Projekt sind auch renommierte schweizerische und internationale Institutionen beteiligt, die dafür sorgen werden, dass die Retrospektive auch nach dem Ende der Ausgabe weitergeführt wird.

Die komplette Retrospektive zu Douglas Sirk wird ab dem 31. August 2022 in der Cinémathèque française zu sehen sein (weitere Informationen unter cinematheque.fr).

Douglas Sirk – Biografie

Detlef Sierck, so sein Geburtsname (Hamburg, 1897 - Lugano, 1987), widmete sich nach seiner Kindheit in Hamburg und Dänemark, woher seine Eltern stammten, dem Theater in Deutschland. Danach wurde er von der Universum Film AG (UFA) angestellt und gab sein Spielfilmdebüt mit April, April! (1935), gefolgt von Schlussakkord (1936) und La Habanera (1937). Wie viele andere europäische Regisseure floh er aus Nazi-Deutschland. Er machte sich mit Hitler’s Madman (1943) und Summer storm (1944) einen Namen. Von da an teilte er seine Zeit zwischen Thrillern und Komödien auf, mit gelegentlichen Ausflügen in andere Genres, wie zum Beispiel Western (Taza, Son of Cochise, 1954). In den Vereinigten Staaten nahm er den Namen Douglas Sirk an und arbeitete ab den frühen 1950er Jahren unter Vertrag bei Universal. 1953 eröffnete All I Desire den grossen Zyklus von Melodramen – darunter Titel wie Magnificent Obsession (1954), All That Heaven Allows (1955), Written on the Wind (1956) und Imitation of Life (1959) – die auch einige europäische Kritiker überzeugten, da sie die amerikanische Gesellschaft mit einem antirealistischen Blick, grösster ästhetischer Raffinesse und einer noch nie dagewesenen feministischen Sensibilität erforschten. Nach seiner Rückkehr nach Europa liess sich Sirk in Lugano (Schweiz) nieder, nahm seine Theatertätigkeit in Deutschland wieder auf und unterrichtete an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFFM) in München, wo er die Produktion von drei Kurzfilmen betreut.

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