Die Veränderungen, mit denen die Filmindustrie in diesen eineinhalb Jahren konfrontiert wurde, waren folgenreich. Alles hat sich verändert – zunächst vor allem unsere Vorstellung, eine Gesellschaft zu sein, die epochale Veränderungen nur als Spiegelbild von Ereignissen erlebt, die "anderen" widerfahren. Unser Verhältnis zu Bildern hat eine weitere Beschleunigung hin zu einer Form des fragmentierten, individualistischen Konsums erfahren. Die Idee des Kinos als ein aussergewöhnliches Ereignis hat einen dramatischen Rückschlag erfahren, da die Menschen aufgrund der weltweiten Pandemie in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wurden und sich nicht mehr als Gemeinschaft vor einer Leinwand versammeln konnten. Es wirkte fast so, als ginge es um das Recht und die Möglichkeit des Kinos, weiter zu existieren. Aber anstatt angesichts der Schwierigkeiten zu kapitulieren, hat das Kino, wie alle wirklich notwendigen menschlichen Aktivitäten, den Auswirkungen der beschleunigten Verwertungsmodelle, die durch die Pandemie ausgelösten wurden, widerstanden.
Als wir uns an die Vorbereitungen für die 74. Ausgabe des Locarno Film Festival machten, konnten wir eine weit verbreitete Vorstellung widerlegen: Dass es keine Filme gäbe, um ein starkes, motiviertes, grosszügiges und konkurrenzfähiges Festival zu organisieren. Selten war die Traurigkeit über die Anzahl der Titel, die wir nicht aufnehmen konnten, grösser. Das Kino hat - angesichts einer epochalen Krise - die Herausforderung nicht nur angenommen, sondern es ist ihm gelungen, sie in die Geschichte zu verwandeln, die wir - alle zusammen - gewonnen haben. Bei der Auswahl der Filme, die Sie vom 4. bis 14. August erleben werden, haben wir versucht, die Grenzen des Möglichen so weit wie möglich zu erweitern: Der Versuchung zu widerstehen, die bereits beschrittenen Pfade zu verfolgen, die Augen offen zu halten für Filme aus anderen Hemisphären, Breitengraden und Ökonomien, den Fokus auf das junge Kino beizubehalten und - vor allem - die Beziehung zum Locarno-Publikum und zum Publikum jenseits der Stadt- und Regionalgrenzen neu zu überdenken. Ein Festival zu sein, das offen und nachhaltig ist, das weiss, wie man die Probleme angeht, die in der Komplexität des historischen Moments liegen, vor dem wir stehen, ohne elitärem Narzissmus zu verfallen. Das Kino hat sich heute - mehr denn je - nach netzartigen, fragmentierten Strategien und Nutzungen überall ausgebreitet. Noch nie hat eine Epoche eine solche Verbreitung des Kinos erlebt und gleichzeitig hat man die Filmbranche noch nie in solchen Formen in die Krise geraten sehen. So finden wir uns - wenn wir es auf die Spitze treiben wollen - in der Hypothese des Verschwindens des Kinos auf dem Höhepunkt seines Seins als Form, Netzwerk, Gedächtnis, Archiv und Lingua Franca unserer gemeinsamen Vorstellungskraft wieder. Beim Locarno Film Festival hingegen geht es darum, der Gemeinschaft des Kinos und seinen unzähligen Geschichten wieder Würde und Sichtbarkeit zu verleihen. Die Hoffnung ist, dass die von uns ausgewählten Filme dem neugierigen, begeisterten, aufmerksamen, aber auch einfach nur zufälligen Betrachter Anhaltspunkte für eine Welt (der Bilder, des Kinos, der Branche) bieten können, die sich selbst neu denkt, die sich für das nächste Jahrhundert ihrer Geschichte rüstet. Woran wir keinen Zweifel haben, ist, dass die Namen, die für diese 74. Ausgabe des Locarno Film Festival ausgewählt wurden, noch jahrelang von sich reden machen werden. Es sind alles Namen, die bald zu unserer Gemeinschaft gehören werden. Wir wünschen gute Filmerlebnisse, frohes Schauen, es lebe Locarno!
Giona A. Nazzaro
künstlerischer Leiter Locarno Film Festival