The Festival

Zusammen – Das Kino, wir und die Welt

von Giona A. Nazzaro

© Locarno Film Festival/Ti-Press

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Und genau dann, wenn auch das letzte Mosaiksteinchen am richtigen Ort ist, zeigt sich der Concorso internazionale des 76. Locarno Film Festival aus der Weitwinkelperspektive wie ein Bildausschnitt aus unserer Welt. In der Nahaufnahme und in der Montage bietet er jedoch Austauschmöglichkeiten und eröffnet neue Diskussionen. Und auch wenn uns die jüngsten politischen Ereignisse nicht optimistisch stimmen, hilft uns das Kino, uns eine bessere Welt vorzustellen. Entgegen unseres Bewusstseins für den historischen Moment, in dem unsere Arbeit angesiedelt ist, haben wir nach Wegen gesucht, um den Sinn der Gegenwart einzufangen, die trotz allem reichhaltig und begeisternd ist. Es ist ein Moment, den wir mit den ausgewählten Filmen versuchen einzufangen und wiederzugeben. 

Von Quentin Dupieux und seinem kantigen Surrealismus bis zu Lav Diaz. Vom Sarkasmus von Radu Jude bis zu Sylvain George. Von den verrückten Erfindungen von Rainer Sarnert bis zu den psychedelischen und abstrakten Filmen von Eduardo Williams. Von der bittersüssen Komödie von Bob Byington bis zur italienischen Offenbarung von Simone Bozzelli. Vom Debüt von Leonor Teles bis zu den Träumen von Ena Sendijarević. Von Ali Ahmadzadehs bedrohlichem und düsterem Teheran bis zu Sofia Exarchous Touristenorten. Nicht zu vergessen Dani Rosenbergs Lob der Fahnenflucht und Annarita Zambranos aufflammende Anarchie. Des Weiteren sind aufstrebende Frauen wie Laura Ferrés und die Ukrainerin Maryna Vroda, die es endlich in die Welt der Langfilme geschafft hat, vertreten. Die Schweiz darf natürlich nicht fehlen. Diese wird durch Basil Da Cunha vertreten, der zu den originellsten Stimmen gehört und zu jenen, die für den Fortschritt des Schweizer Kinos verantwortlich sind. 

In der Auswahl von Locarno finden sich alle Ausdrucks- und Erscheinungsformen der Welt wieder.  
Und damit auch das Kino, mit all seinen Möglichkeiten, welche es noch zu entdecken gilt. 

Die Auswahl, die der Entdeckung des Kinos von morgen gewidmet ist, umfasst 15 Filme: Erst- und Zweitwerke, allesamt Weltpremieren. 

Darunter befinden sich acht Werke, bei denen jeweils eine Frau Regie führte. Und einmal mehr sind verschiedene Facetten des Kinos vertreten: Wilde erotische Komödien (On the Go), surreale und metaphysische Reflexionen über Leben und Tod (Dreaming and Dying), verstörende Reflexionen über das Potenzial von Begehren und Macht (Touched), Thriller (Xi du [West Border], makabre Liebesfilme (La Morsure), träumerisch-ironische Geschichten über das Ende der Welt (Camping du Lac), Reflexionen über die Möglichkeiten des Kinos (Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag) und Einblicke in die Realität des indischen Subkontinents  (Rimdogittanga [Rapture] und Whispers of Fire & Water). Nicht zu vergessen Family Portrait, der Debütfilm der sehr talentierten Lucy Kerr. Bereits unter diesen Talenten lässt sich das Kino von morgen ausmachen. 

Die Piazza Grande ist in diesem Jahr dem Populärkino gewidmet – aber nicht nur.  

Es werden Klassiker wie La Paloma (1974) von Daniel Schmid, der restauriert und wieder zum Leben erweckt wurde, oder La città delle donne (City of Women, 1980) von Federico Fellini wiederentdeckt. Weiter werden auch abstrakte und metaphysische Thriller wie Falling Stars von Richard Karpala und Gabriel Bienczycki gezeigt – ein Film, der sich bereits auf bestem Weg befindet, um Kult zu werden. Die Piazza wird auch Sandra Hüller (Anatomie d'une chute) empfangen, Ken Loach (The Old Oak), Deva Cassel und e Yile Vianello (La bella estate), Edoardo Leo (Non sono quello che sono - The Tragedy of Othello di W. Shakespeare), Frédéric Mermoud (La voie royale), den Kultfilm Theater Camp, der am Sundance vorgestellt wurde, und zum Schluss noch Cate Blanchett als Produzentin des Films Shayda von Noora Niasari mit Zar Amir Ebrahimi in der Hauptrolle. 

Die Sektion Fuori Concorso ist den grossen Meistern gewidmet: Unser geliebter Paul Vecchiali ist mit seinem letzten Film noch einmal auf der Piazza vertreten. Präsentiert wird der Film von seinem Freund und bevorzugten Schauspieler Pascal Cervo. Barbet Schroeder, Franco Maresco und Denis Coté werden ihre neuesten Werke vorstellen. Und die Liebhabenden der Genrefilme können die Freuden des philippinischen Actionfilms Toppakk (Triggered), die jugendlichen Vampire von Napoli und die Geheimnisse des Geistes von What Remains entdecken. 

Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns wieder auf der Piazza Grande zu treffen! 

Giona A. Nazzaro
Künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival